Fantasie konkret

von Jakob Streit


Seine Geschichten und Erzählungen werden seit vielen Jahren in unzähligen Kinderstuben gelesen und vorgelesen Jakob Streit - ein wahrer Streiter für die unverbrauchten Kräfte der kindlichen Fantasie. Mit Charme, zuweilen mit einer entwaffnenden Naivität und mit einer unbesiegbaren Begeisterung für die Entwicklungsbedürfnisse und Geheimnisse der kindlichen Seele wandert er unermüdlich durch die deutschsprachigen Länder, erzählend und vortragend. Am 23. September 2000 beging der in Spiez geborene und dort auch wohnende Schweizer seinen 90. Geburtstag. Im Berner Oberland war er Lehrer. Von den Kindern selbst hat er die Kunst des Erzählens gelernt. (jcl)


Wenn man 45 Jahre lang auf verschiedenen Altersstufen für Kinder fast täglich erzählt hat, dann lernt man von ihnen viel, wird mitgetragen auf den Schwingen der Poesie, des Bildhaften. Für spätere Altersstufen wächst das Interesse für alles echt Menschliche.

Jakob Streit als junger Volksschullehrer in Bönigen
Jakob Streit als junger Volksschullehrer in Bönigen

Wie kam ich z.B. zu meinem ersten Zwergenbuch? Eine Schülerin der 3. Klasse brachte eines Morgens ein großes schönes Edelweiß zum Lehrerpult und sagte: «Der Vater hat es mir gegeben und gesagt, wenn Ihr uns erzählt, wie das Edelweiß entstanden ist, dürft Ihr es behalten!» Die Kinder setzten sich schwiggs in die Bänke; denn dem Drittklass-Lehrer traut man alles zu. Vierzig Augenpaare schauen dich erwartungsvoll an. (Wir hatten eben die Weltschöpfung unterwegs.)

 

Ich begann bedächtig, und bald waren Gnomen und Elfen dabei, die Sterne des Nachthimmels. Sie begannen die Silbersterne des Edelweiß zu zaubern. Getragen von den staunenden Augen der Kinder, dauerte die Erzählung wohl an die zwanzig  Minuten. Als das Edelweiß geschaffen war, stand ein Büebli auf und verkündete: «Morgen kommt dann der Enzian dran!»

So ging's nun von Tag zu Tag durch die verschiedenen Bergblumen. Ich konnte mich gar nicht vorbereiten. Ich brauchte die Kinder dazu. Hinterher schrieb ich die entstandenen Geschichten auf. Sie wurden dann publiziert als Bergblumen Märchen (Heute im Oratio Verlag, Schaffhausen).


Ein anderer Auftrag: In Hannover fanden immer zu Pfingsten die Tagungen der internationalen Waldorf-Kindergarten-Vereinigung statt mit gegen 700 Teilnehmerinnen. Der Leitende, Dr. Helmut von Kügelgen, schrieb mir in einem Monat Januar, ob ich zu Pfingsten im Plenum zu Hannover eine noch nicht vorhandene Zwergengeschichte erzählen, d.h. im status nascendi unmittelbar improvisieren würde? Ich dachte, was stellt sich da der gute Kügelgen vor? Und wollte ihm schon abschreiben. Aber in der Nacht, in einem Traum, erschien mir ein Zwerg, nannte sich Tatatuck. Dieser erlebte Ungutes mit bösen Kobolden.

Als ich ganz wach war, schrieb ich die erlebten Motive auf einen Zettel, nicht größer als eine Postkarte. Mit diesem Zettelchen ging's dann ans Vortragspult, und die 700 Kindergärtnerinnen lauschten ne Humor. Gleich darauf traten einige an mich heran: «In welchem Verlag istTatatuck erschienen, Ich musste antworten: «Zuerst muss ich ihn aufschreiben ...» Wenn man vermag, die Fantasie konkret transparent zu machen, dann strömen Urbilder hinein. Das gilt nicht nur für Zwergengeschichten.